griechische Musik: Europäische Musik im Werden

griechische Musik: Europäische Musik im Werden
griechische Musik: Europäische Musik im Werden
 
Keine andere Musikkultur hat Gelehrte so vieler Sparten, Musikwissenschaftler, Philosophen, Philologen, Altertumsforscher, auch Archäologen und Physiker durch die Jahrhunderte seit dem Ausgang des Altertums stärker zu wissenschaftlicher Auseinandersetzung angeregt als die der Griechen, obgleich die Musik selbst als Phänomen nicht greifbar ist. Die griechische Musikgeschichte, wenn denn ihre Anfänge überhaupt festzumachen sind, hatte bereits ein knappes Jahrtausend durchlaufen bis zu der Zeit, aus der die wenigen erhaltenen Tondokumente stammen - sie sind aus dem Hellenismus und der frühen römischen Kaiserzeit (3. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.) überliefert. Tonzeichen für den Gesang sind allerdings schon für das 5. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesen, etwa in der Vasenmalerei; der Ursprung der Instrumentalnotenschrift wird ins 6. Jahrhundert datiert. Insgesamt sind 35 Tondenkmäler ganz oder bruchstückhaft tradiert, und ständig werden neue entdeckt. Die aufgezeichneten Werke, Hymnen, andere Gesänge oder deren Fragmente, sind in Wände oder Stelen eingemeißelt, auf Papyri oder in Handschriften aus späteren Jahrhunderten überliefert mit Tonzeichen, die dem griechischen Alphabet entlehnt sind.
 
Berühmt ist das Seikilos-Lied, ein Skolion, das ein gewisser Seikilos auf dem Grabstein seiner Ehefrau Euterpe anbringen ließ. Die Melodienotationen sind schwer zu deuten: Hielt man einstimmig den Melodieverlauf fest oder notierte man lediglich ein tonales Gerüst, das heterophonisch umrankt werden sollte; waren somit Instrumente einzusetzen? Bei Versuchen, die Musik wieder zum Erklingen zu bringen, sind zwei extreme Auffassungen zu beobachten. Einerseits werden die Melodien solistisch oder in einstimmigem Chor streng nach der Folge der notierten Zeichen wiedergegeben, zuweilen auch mit einstimmiger Instrumentalbegleitung; andererseits musiziert man abwechslungsreich unter Verwendung von musikalischen Verzierungen in größeren Gruppen, alternierend mit Instrumenten, die den griechischen nachgebaut oder aber dem orientalischen Umfeld entlehnt wurden. Nach der älteren wissenschaftlichen Auffassung haben die Griechen schlicht und würdevoll rezitiert, Textverständlichkeit und damit klare Deklamation, notengetreue Wiedergabe der Melodie standen im Vordergrund. Die Befürworter der anderen Richtung waren geprägt von der um die Jahrhundertwende entstandenen Disziplin der Vergleichenden Musikwissenschaft, die die Möglichkeiten der maschinellen Schallaufzeichnung für ihre Auseinandersetzung mit der außereuropäischen Musik nutzte. Die Nähe Griechenlands zum Vorderen Orient und zu Nordafrika in der Umgebung des östlichen Mittelmeeres ließ wechselseitig beeinflusstes Musizieren hier wie dort vermuten. Man ging soweit zu vertreten, dass Griechenland »wenn auch geographisch zu Europa, so doch musikalisch unabtrennbar zum alten Morgenland gehört«(C. Sachs). Griechenland komme das besondere Verdienst zu, orientalische Musiksysteme theoretisch sorgfältig durchgearbeitet und historisch übermittelt zu haben.
 
Ohne Zweifel ist die einzigartige geographische Lage Griechenlands für die Entwicklung und Praxis der Musik von größter Bedeutung. Nördlich und westlich der Griechen siedelten andere indoeuropäische Völker (wie Thraker, Illyrer, Kelten, Italer und weitere im nördlichen Hinterland, nicht in unmittelbarer Nachbarschaft wie Skythen, Kelten, Slaven und Germanen) mit den ihnen eigenen kulturellen Ausprägungen. Ihre Musik ist unterschiedlich bekannt und nicht vollends erforscht, ganz im Gegensatz zu den überseeischen, südlich und östlich traditionell etablierten, städtisch geprägten Zivilisationen (zum Beispiel in Ägypten, Mesopotamien, Vorderasien). Wann und in welcher Intensität diese Einflüsse in Griechenland wirksam waren, ist wenig geklärt. Hierzu stellen sich Fragen der zeitlichen Tiefe, der Geschichtlichkeit also, und vor allem der Quellen, die griechisches Musikleben und Musizierpraxis belegen.
 
Früheste Zeugnisse des Musizierens in Griechenland stammen von vorgriechischen Bevölkerungen des südlichen Balkans, die seit Beginn des 2. Jahrtausends von Norden her einwanderten und ansässig wurden, wie sich in bronzezeitlichen Funden äußert, nämlich der festländischen helladischen, der kykladischen und der minoischen Kulturen. Bekannt sind die marmornen Harfenisten, Aulos- und Panflötenspieler aus frühkykladischer Zeit. Leiern, etwa auf Siegeln oder in einem Fresko und auf einem bemalten Tonsarkophag von Hagia Triada und als Votivgaben von Mykene, alle im 2. Jahrtausend gestaltet, belegen das früheste Vorkommen dieses zu allen Zeiten des griechischen Musiklebens beliebten Instruments. Diese spärlichen archäologischen Quellen wurden in der Zeit der geometrischen Stile (11. bis Anfang des 7. Jahrhunderts) durch Kleinbronzen von Musikanten und Darstellungen auf Vasen ergänzt, die Reigentänze mit Leierbegleitung erkennen lassen. Sie werden als Anfänge des griechischen Musiklebens interpretiert und machen die Grundeinstellung der Griechen zur Musik deutlich: Klang, Bewegung, wahrscheinlich auch bereits Poesie - man nimmt an, dass die Tänzer sangen oder rezitierten - bildeten eine Einheit. Es war die große Zeit der epischen Sänger, die die Mythen und geschichtlichen Ereignisse, so zum Beispiel den Trojanischen Krieg, von Generation zu Generation überlieferten.
 
Viele Eigenheiten des Musiklebens, auch Vorstellungen über Musik, die sich in dieser Zeit gebildet haben mögen, treten in den ältesten Denkmälern der griechischen Literatur, der »Ilias« und der »Odyssee« Homers, in Erscheinung. Gesang, Saitenspiel und Tanz spielten danach ihre beständige Rolle im täglichen Leben, bei Mahlzeiten, bei Hochzeiten und Trauerfeierlichkeiten. Homer bezeugt den Reigentanz als Kunst, die den Gegensatz zur kriegerischen Handlung bildet. Er kennt den - offenbar geschulten - Sänger bei Hofe. Gesang ist Musenkunst, als göttlich werden Musik und Dichtung gepriesen. Eine weitere Quelle für die Musik bietet die seit dem 7. Jahrhundert überlieferte Lyrik etwa des Alkaios oder der Sappho, des Anakreon und schließlich des großen Pindar. Aus der dichterischen Gestaltung lassen sich formale, metrische und rhythmische Details für den Aufbau von Gesängen herleiten. Musikalische Gattungen wie die solistische und chorische Lyrik und andere Formen sind historisch nicht immer genau festzumachen, ebenso wenig wie die Entstehung des so wichtigen Chorliedes für Dionysos, Dithyrambos genannt. Das attische Drama, dessen Anfänge in dieser Zeit zu liegen scheinen, entwickelte sich in klassischer Zeit als Tragödie zu hoher Kunst. Die Musik spielte in allen diesen Gattungen offenbar eine große Rolle.
 
Im frühen 7. Jahrhundert, dem Beginn der »archaischen Zeit«, wirkte auch der in Sparta beheimatete Terpandros, dem die Musizierpraxis und Theorie neue Impulse verdankten: Er soll aus der viersaitigen die siebensaitige Leier entwickelt und damit zu einem erweiterten Musiksystem angeregt haben; außerdem wird ihm die Erfindung der »kitharödischen Nomoi« zugeschrieben, die er auch einzeln benannt habe. Damit waren Melodietypen, deren Konstruktion bestimmten Gesetzen folgten, zu unterscheiden. Wenig später traten die »aulodischen Nomoi« hinzu, und so wurde der bei den Griechen als fremdes Instrument geltende Aulos in die gehobene musikalische Praxis integriert.
 
Diese Aussagen über die griechische Musik sind wie auch die Kenntnis der Musen, der musikalischen Sänger- und Göttermythen, ausschließlich in der Dichtung belegt. Die aus den Epen und der Lyrik bekannten Geschichten, die Sagen und Legenden, wurden auch ikonographisch wiedergegeben, vor allem auf zunächst schwarz-, später rotfigurigen Gefäßen, die die Griechen in großer Vielfalt aus Keramik fertigten und die, einsetzend mit dem 6. Jahrhundert, ein außerordentlich reges Musikleben erkennen lassen. Doch weder die Musikgeschichte noch die Theorie sind gesichert aus dieser von mythischem Denken bestimmten Überlieferung herzuleiten.
 
Prof. Dr. Ellen Hickmann
 
 
Musikgeschichte in Bildern, begründet von Heinrich Besseler und Max Schneider. Herausgegeben von Werner Bachmann. Band 2: Wegner, Max: Griechenland. Leipzig 31986.
 Neubecker, Annemarie Jeanette: Altgriechische Musik. Eine Einführung. Darmstadt 21994.
 Pöhlmann, Egert: Denkmäler altgriechischer Musik. Sammlung, Übertragung und Erläuterung aller Fragmente und Fälschungen. Nürnberg 1970.

Universal-Lexikon. 2012.

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